Der kürzeste Weg ans Meer führt geradeaus, aber ich biege ab und ziele nach Süden. Ein kurzer Umweg übers Mittelmeer spielt keine Rolle. Ich drehe alle halbe Stunde dieselbe Kassette um und surre in Trance über die Autobahn.

Nach zehn Stunden stehe ich am Strand und blicke die Bucht entlang, die bis zum Horizont mit erleuchteten Apartments verbaut ist. Das Meer liegt vollkommen ruhig da. Ein Bach mündet hier, und von einer Brücke aus angeln dicke Männer mit Zigarren im Mundwinkel nach Fischen, die unter uns im klaren Wasser umherhuschen. Ich überlege kurz, die Nacht hier im Auto zu verbringen, sehe dann aber ein, dass morgen auch keine besseren Wellen sein werden oder überhaupt welche – und es noch weit genug ist bis zum Atlantik. Zweimal im Orbit um den Kreisel in Montpellier, dann finde ich den Ausweg nach Westen und schaffe es noch bis Toulouse, zweige falsch ab und irre durch die menschenleere nächtliche Stadt. Zurück auf der Autobahn steuere ich den ersten Rastplatz. Lastwagen parken zu beiden Seiten, der erste steht am Anfang der Einfahrt noch auf der Autobahn. Ich rolle langsam die Herde schlafender Ungetüme ab und finde einen Spalt zwischen den Mastodons, in den ich mich verkriechen kann, und schlafe auf dem Rücksitz. Die Januarkälte fällt frostig von den Pyrenäen aufs Land. Nach kurzem Schlaf ziehe ich mir einen Espresso aus dem Automaten, an den Stehtischen hängen Zombies, die den Schlaf mit Red Bull und Nikotin austreiben. Ich kratze Eis von der Scheibe und mache mich für die letzten Stunden an die Atlantikküste auf. Um sieben stehe ich am Strand unterhalb der Steilküste in Biarritz und warte, dass die Sonne über den Klippen aufgeht. Auch hier stehen stumme, stoische Männer an der Brüstung, angeln oder sehen aufs Meer hinaus, die Wellen biegen um den Fels und laufen in die Bucht, über den Riffen im Süden dampft die Gischt. Ich weiß, dass der weite Weg sich gelohnt hat und dass Eile ab jetzt für ein paar Wochen überflüssig ist.

Obwohl ich vor einer Woche noch im Wasser gewesen bin, spüre ich gleich beim ersten Mal in den Wellen hier, dass dies ein anderes Element ist. Es ist salziger, schonungsloser, und der offene Ozean im Rücken gibt ihm ein Selbstvertrauen, das auf schiere Größe vertraut. Ich fühle mich auf nüchternes Maß zurechtgestutzt. Den Drang, am Meer zu sein, habe ich über Weihnachten mit einem Abstecher an die niederländische Küste kurz gestillt. Der Wind kam aus Nord mit Stärke sechs. Ich vermutete, dass auf der Südseite der Hafenmole eine Welle bricht. Ich fuhr los – mit einem sechs Millimeter dicken Anzug, Kopfhaube und Handschuhen, aber ohne Brett, das ich für die Feiertage nicht nach Hause mitgenommen hatte. Der Surfshop am Strand hat das ganze Jahr geöffnet und vermietet Bretter. Die Fahrt über regnet es, aber in dem Moment, als ich mit dem Wagen auf den Parkplatz am Strand fahre, reißt der Himmel auf. Die Wellen sind da, einen Meter hoch und in Formation. Ich leihe mir ein Brett, das erst aus dem Keller geholt werden muss, da anscheinend niemand vorm Sommer mit Kunden gerechnet hat, und ziehe mich im schneidend kalten Wind um.

Ein einheimischer Surfer, der aus dem Wasser kommt, spricht mich an und sagt, die Größe des Brettes meinend, so eines tauge heute nicht, die Wellen seien ziemlich heftig. Ich denke kurz an die Atlantikwellen vor gut einem Monat auf den Kanaren. Kaum vorstellbar, die braune Nordsee würde es wagen, dem nacheifern zu wollen. Ich paddle um den Peak herum und nehme eine der Wogen, die sich an dieser Stelle an einer versunkenen Mole brechen. Die Welle läuft und Kälte, kackbraunes Wasser und Nordsee-Mushburger sind egal – alles gut. Nach zwei Stunden im Wasser liefere ich das Pop-out-Brett wieder ab.

Während die Verkäuferin noch Winterjacken anpreist, warte ich an der Kasse. Auf der Theke liegen Surfzeitschriften, darunter ein Reiseführer zu den besten Wellen der Welt. Ich nehme ihn, fasziniert vom Titelfoto, in die Hand, blättere darin – und lege ihn zurück: Seite um Seite kristallklares Wassers und perfekte Wellen sind dann doch zu viel an Kontrast zu dem Schlick, auf dem ich noch eine halbe Stunde zuvor gesurft bin.

„Unglaublich, nicht?“ höre ich die Verkäuferin hinter mir sagen.

„Zu wahr, um schön zu sein“, antwortete ich.

 

Liebesopfer

Die beiden Reisen, die S. und ich zusammen unternommen haben, führten ans Meer. In Santander campen wir in der Nähe des Leuchtturms auf einem kleinen Zeltplatz an der Steilküste. Es ist Vorsaison und bis auf drei, vier andere Zelte ist es wie ausgestorben. Die Küste ist gewaltig, steil fallen die Klippen ins Meer ab. Zwischen dem Campingplatz und der Stadt liegt eine kleine Bucht. Ich schwimme in der schmalen Bucht weit hinaus, die Wellen kommen in der Mitte herangerollt und brechen sich als A-Frame. S. sitzt auf den Klippen an dem Pfad, der auf halber Höhe um die Bucht führt. Ich habe kein Brett auf die Reise mitgenommen, weil ich ein Longie im Zug ohnehin nicht hätte transportieren können, und mit ihr und Brett hätte es sowieso nur Ärger gegeben ... Ich gehe einfach Bodysurfen. Links und rechts zieht eine ordentliche Strömung aus der Bucht, das viele Wasser, das mit den Wellen in die Enge getrieben wird, sucht sich einen Weg zurück aufs offene Meer. Sie lässt sich nutzen, um mit dem Strom nach draußen zu treiben, wo ich eine Welle nehme, die gerade hereinkommt. Und ich habe Glück, das jedes Mal eine bricht, wenn ich mich dem Ende der Bucht nähere, um zurück zum Strand zu surfen. Ich rutsche das steile Face der Wellen herunter und verliere dabei jedes Mal fast die Shorts. Ich merke, dass das Surfboard eigentlich nur eine Prothese ist, und bei Wellen, die kräftig und groß genug sind, reicht es, sich selbst dem Element auszuliefern: Bedingungen, die zu Hause nie herrschen, weil es zu kalt ist oder die Wellen zu schwach sind, um den Körper wirklich zu tragen.

„Wie eine Robbe sieht das aus, wenn du durch die Wellen tauchst“, sagte S., als ich vor Kälte zitternd und ausgelaugt neben ihr auf dem heißen Stein sitze. Wir küssen uns und das Salzwasser, das mir aus den Haaren läuft, vermischt sich mit ihrem Geschmack zu einem speziellen aquatischen Aroma. Es ist die Geruch von Seetang, der an den Strand spült, den Aerosolen der Brandung und dem unerschöpflichen Reservoir an Erwartungen, Sehnsüchten und dunklen Ahnungen, für die das Meer steht – und manche Frauen.

Ein junger Surfer steigt mit dem Brett unterm Arm die Stufen zum Strand hinunter. Er hat ein winziges, papierdünnes Board, das er sich am Wassersaum in der Hocke quer über die Knie legt und wachst. Er spart die Mitte und die Nose aus und streicht nur über zwei Flecken für den hinteren und vorderen Fuß. Er wird die Position auf dem Brett, die er nach dem Take-off einnimmt, nicht mehr ändern. Die Turns leitet er mit dem Druck des Körpers ein, den er auf das Board ausübt. Anders als beim Longboarden bewegte er das Brett auf den Wellen und ist selbst immer so agil wie seine Manöver. Anders als Longboarder, die ständig über die gesamte Länge ihres Bretts laufen, beschleunigen, indem sie nach vorn krossen, auf der Nase des Bretts ausharren in der fragilen Balance zwischen dem eigenen Gewicht und dem Auftrieb, der beim Gleiten produziert wird.

Der Spanier paddelt gegen die ein bis eineinhalb Meter hohen Wellen. Kommt eine Schaumwalze auf ihn zu, greift er nach der Nase des Bretts und stößt mit der Fahrt, die er paddelnd aufgenommen hat, über die brechende Welle. Dann, weiter draußen, taucht er mitsamt dem Board durch die ungebrochene steile Woge, die sich vor ihm aufbaut, bleibt ganz unter Wasser, wo er, ein dunkler Punkt im klaren Wasser, auftaucht und sich auf sein Brett setzt. Die Sets kommen ohne größere Pausen herein. Er blickt zurück zum Strand, schätzt die Distanz ab, und paddelt noch ein bisschen aufs offene Wasser, weil er vermutlich weiß, dass bei diesem Wasserstand die besseren Wellen noch ein Stück weit draußen brechen. Er setzt sich wieder auf sein Brett, das nur mit der Nase aus dem Wasser ragt. Stützt die Arme seitlich abgewinkelt gegen seine Hüften. Sein Umriss steht für Kraft und Erwartung auf Abruf. Er lässt die erste Welle des nächsten Sets unter sich durchlaufen, dreht der zweiten den Rücken zu und drückt sein Brett, als er auf halber Höhe des Face im Wasser liegt, kurz unter Wasser und steigt mit dem herausschnellenden weißen Vehikel in die Welle ein. Er zieht dicht an die Schulter, duckt sich und kriegt die Lippe auf den Rücken, kommt wieder frei und macht einen Top-turn, schießt zum Fuß herunter und ist jetzt auf gleicher Höhe mit uns auf den Felsen, fährt in einer scharfen Kurve wieder hoch zur Lippe, stemmte sich mit der Brettunterseite dagegen, und wir sehen bloß noch Wasser im hohen Bogen aufgeworfen werden, dann bäumt sich die Rückseite der Welle über ihn. Als er sieht, dass die Welle zumacht, schießt er über die Schulter nach hinten hinaus und fliegt mit steifem Körper in das schaumige Flachwasser hinter der Welle.

S. und ich blicken uns kurz an, sagen aber nichts. Ich merke ihr an, dass sie mitgerissen ist. Egal, was ich sagen würde, alles klänge nach: „Hab ich es nicht gesagt.“ Sie hat die Faszination gespürt. Damit ist es erst einmal gut.

Der Surfer paddelt in demselben Strom, den ich zuvor ohne Brett genommen habe, zurück. Er driftet an uns vorbei und sieht uns jetzt zum ersten Mal. Seine Performance auf der Welle hat nur ihm gegolten. Zuschauer sind nicht eingeplant, aber sie stören auch nicht. Ihm zuzusehen, merke ich, ersetzt den Drang, selbst ins Wasser zu gehen, für den Moment.

Aber dann ist der Moment auch schon vorbei.

 

Epilog

Die Rettungsschwimmer haben die Fahnen so gesteckt, dass sie, ohne den Kopf wenden zu müssen, alles unter Kontrolle haben. Am Ende der Sandbank rollen die ziemlich hohen Wellen in den Priel, und ich brauche nur ein paar Minuten, um mein Brett vom Autodach zu schnallen, in den Anzug zu steigen, der noch klamm von der letzten Abendsession ist, aber dampfend heiß aus dem Kofferraum kommt, und die Heimfahrt auf Morgen oder später zu verschieben. Ich paddle mit dem Strom nach draußen, ohne einen Take-off-Punkt ausmachen zu können. Als das nächste Set kommt, merke ich, dass ich immer noch viel zu weit innen bin, die Welle baut sich dunkel vor mir auf, immer dunkler, je länger sie sich aufrichtet, bis sie einige Meter vor mir bricht. Die Schulter ist rund, vom Rückenwind angetrieben, und es reicht, kurz vor dem Weißwasser eine Eskimorolle zu machen und den Schaum über mich hinweggehen zu lassen. Am Ende stelle ich das Brett, unter Wasser an ihm hängend, leicht schräg, so dass die Welle darunter greift und es mit mir umdreht.

Ich schwinge mich auf und paddele über die nächste Welle, in dem Moment, als sie zu brechen droht, drehe die Nase des Bretts in Richtung Land und nehme die letzte der Gruppe. Sie wird steiler, je weiter ich auf die flache Sandbank komme, bleibt aber offen. Das Face ist voller Buckel, über die ich hinwegrase, mit dem vorderen Fuß beschleunigend, mit dem hinteren bremsend, um mich nie zu weit vom brechenden Teil zu entfernen. Plötzlich entdecke ich einen Surfer vor mir im Schaum der vorhergehenden Welle rauspaddeln und muss nach vorn ins Flat ausweichen, um ihn nicht über den Haufen zu fahren. Ich versuche, im Bogen wieder an die Schulter zu gelangen, werde aber von der Welle überrollt, weil ich auf dem Umweg alle Geschwindigkeit verliere. Ich tauche ab und hinter dem Schaum wieder auf, jetzt direkt neben dem anderen Surfer.

Er ist überrascht, weil er mich auf der Welle nicht gesehen hat und sich fragt, wo ich plötzlich herkomme. Ich paddle vor ihm her zur Seite weg, um vor der nächsten Welle im sicheren Priel zu sein. Kurz darauf sitze ich wieder draußen und warte. Die nächsten Wellen kommen, und wieder paddeln wir langsam ein Stück gemeinsam, bis er total erschöpft und pfeifend atmend hinter die Brandungslinie vorgedrungen ist.

Wir sitzen nicht weit voneinander – die einzigen Surfer an diesem Wochentag in der Vorsaison. Die Nose seines Bretts ragt aus dem Wasser bis auf Höhe seiner eigenen Nase. Sein Anzug hat im Nacken einen dicken Buckel, weil er ihn nicht richtig zugemacht hat.

Ich nicke, der Minimalgruß der Surfer, und er lächelt freundlich zurück. Dann spreche ich ihn, einer Eingebung folgend, auf Deutsch an. „Wie läuft´s?“, ohne eine Antwort abzuwarten, weil sich ein Set nähert, er dreht sein Brett und beginnt im Liegen vor der ersten Welle wegzupaddeln. Sein Unterkörper hängt im Wasser hinter dem Brett, mit dem Kinn liegt er auf Höhe der Brettmitte, er paddelt mit den Armen und strampelt gleichzeitig mit den Füßen. Die Welle hebt ihn an und läuft unter ihm durch, ohne ihn überhaupt anzutreiben. Er flucht und setzt sich wieder auf, als die nächste Welle des Sets, höher als die erste, direkt vor ihm bricht und ich eine Weile nichts mehr von ihm sehe. Das Brett ragt aufrecht wie ein Grabstein aus dem Wasser, als er tauchend an der Leash zieht, um wieder an die Oberfläche zu gelangen.

Ich erwische die letzte Welle des Sets. Beim Rauspaddeln bleibe ich neben ihm. „Ganz schon heftig heute“, sagt er. Seine Augen sind weit geöffnet, wie bei jemandem, der den Überblick verloren hat. Ich biete ihm an, zusammenzubleiben, damit er sich beruhigt, während ich genug Abstand halte, um nicht in seine Bahn zu geraten.

Wir sind plötzlich verantwortlich füreinander. Und ich respektiere sein Verlangen, auch bei Bedingungen rauszupaddeln, in denen er ganz klar nichts verloren hat. Aber jetzt muss er zusehen, wie er in diesem Element zurechtkommt, und das, ohne das unbeschreibliche Vergnügen erlebt zu haben, bis jetzt auf einer Welle geritten zu sein. Aber er hat Blut geleckt und ich verschiebe in Gedanken meine Heimfahrt auf noch später. Sowieso egal, wie weit ich wegfahre, das Meer bleibt stärker.

Ein neues Set rollt herein, und ich lasse eine Welle passieren, die ich genauso gut hätte nehmen können. Wir driften in den Channel und er fragt mich: „Wie machst du das eigentlich mit dem Paddeln?“

So fängt es an.

 

(Schluss)

Bild von tripmaster

schön!

tripmaster on Mi, 01/12/2011 - 19:58

schöne Lektüre zum Feierabend.
ich liebe das Zeug, das du schreibst!