Ich wache gegen sechs mit dem ersten fahlen Licht auf. Auf der Scheibe des Zimmers läuft das Kondenswasser runter. Alles ist so klamm und kalt, dass ich ein paar Minuten in Starre warte, bevor ich es wage, die Decke zur Seite zu schlagen und ans Fenster zu gehen. Es hat in der Nacht geschneit. Ich ziehe mich an und gehe los, um einen Blick über die Düne zu werfen. Es ist windstill, und ich ahne, die Wellen würden gut sein – was ich dann sehe, ist schlicht perfekt für die Welt jenseits der Hollister Ranch. Ich renne atemlos zum Haus zurück und wecke meinen Bruder, der sich in die untere Koje eines der Kinderdoppelbetten zurückgezogen hat wie ein Bär im Winterschlaf. Kaum eine halbe Stunde später paddeln wir um das Riff in die brillanten Wellen. Ich trage einen 6-mm-Anzug – so ein steifes Teil von Anfang der Neunziger, das nach dreimal Anziehen porös wird und ausleiert – mit Neoprenweste darunter und fühle mich so tatkräftig wie ein rheumatischer Pinguin, aber die Brandung lässt keine Trägheit zu. Die größeren Sets brechen noch ein Stück weiter draußen, als wir uns positioniert haben, und schon nach dem dritten Tauchgang bekomme ich Eiscremekopfschmerzen: Eskimorolle, auftauchen, wieder aufs Brett wuchten, hinsetzen und Sterne zählen. Dann weiterpaddeln, bevor der nächste Waschgang droht.

Die Welle bricht als eine satte Bowl, um dann in einer langen, kleineren Schulter bis auf den Strand durchzulaufen. Es hat aufgehört zu schneien, aber Sand und Dünen sind weiß und reflektieren wie der schaumige Meeressaum das Sonnenlicht und erleuchten diesen Tag. Nach zwei Stunden hat die Kälte meinen Körper vollkommen in Besitz genommen. Ich tauche durch ein Set, paddle wieder raus und setze mich neben D. Erstmal kurz sammeln, bevor das nächste Set reinkommt. Er sieht mich seltsam an und fragt, „Was ist denn mit dir los?“ „Mir ist kalt“, erwidere ich und schüttle mich, weil mir abwechselnd eisige und wärme Schauer den Rücken runterlaufen. War das nicht so beim Erfrieren? Irgendwann wird einem warm und dann schläft man zufrieden ein ... Ich bin eigentlich zu dürr für diese Klima. Wie war das mit Tieren einer Gattung? Die Art, die am nächsten am Pol lebt, hat das größte Körpervolumen – kleine Pinguine am Äquator, dicke Brocken in der Antarktis. Und dann ich hier als dünner Hering ...

Ich fange an zu träumen. Es ist gar nicht so lange her, dass wir die Wellen an dem Meer, an dem wir leben, noch gar nicht registriert haben. Und dann plötzlich, zack!, öffnet sich eine völlig neue Welt. Von da an ging es nur noch um den Einsatz, überall Wellen aufzuspüren, die niemand erwartet hat. Je mehr wir über Wellen lernten, desto näher lag plötzlich die Küste, an der man surfen konnte. Auf der Karte sahen wir die Wellen schon brechen. Ein Knick in der Küste schützte den Strand vor dem Wind. Abgeschirmt wagte sich die Brandung in einzelnen Sets aus der Masse heraus und rollte um die Landspitze auf den Strand zu. Die Kälte war unwichtig. Als wir zum ersten Mal Wellen in der Kieler Bucht surften, war das wie eine Befreiung, Blinde konnten wieder sehen, Lahme gehen. Sommer 92. Ich sah den Windsurfern zu und entdeckte plötzlich diese Welle im Schutz der kleinen Bühnen. Sie lief klein, aber echt sauber auf den Strand. Beim nächsten Weststurm war ich mit Board da und surfte meine erste Ostseewelle. Später am Strand fing mich der Rettungsschwimmer ab: „Pass auf, hier sind starke Unterströmungen.“ „Alles klar“, sagte ich und musste grinsen. Wir waren gerade aus Frankreich zurück und der Vergleich zwischen dem Shorebreak bei Hochflut dort und der homöopathischen Strömung hier war einfach zu krass. Alles eine Frage der Perspektive.

1995 dann Ds Artikel über die Session in der Lübecker Bucht. Mit Bildern, die alles beweisen: sauber Schultern, akzeptable Größe, leeres Line-up. Wir saßen in St. Girons am Strand, als jemand das Magazin aus Deutschland mitbrachte. Das Heft mit dem Artikel ging rum, und alle waren fasziniert. „Das ist real“, sagte einer. Die Jahre danach waren golden ...

Ich paddelte etwas weiter hinaus und erwischte meine erste Welle an diesem Spot. Das Meer war nirgendwo tiefer als 20 Meter, und es wäre der schlimmste Ort der Welt zum Surfen gewesen, ohne die überwältigend simple Erkenntnis, dass überall, wo Wasser ist, Wellen brechen. Ich sah D, der das hier für uns entdeckt hatte, in eine Woge hineinziehen, er schmiegte sich an die Schulter, die ihm bis an den Brust reichte, raste um die erste Sektion, fuhr hoch zur Lippe und ließ sich über den Schaum hinweg nach vorn tragen. Am Ufer standen die Strandkörbe der letzten Saison. Mit Brettern vernagelt, warteten sie auf den Abtransport in das Winterlager. Ein Spaziergänger kam vorbei, blieb für einen Moment, bevor er weiterging, sichtlich fröstelnd und genervt vom Herbst, der sich breitmachte. Ich lachte ihn insgeheim aus. Bis vor kurzem waren wir selbst wie er, verdrießt darüber, an einem Meer zu leben, das nur dem Namen nach eines war. Von der Seebrücke aus machten wir ein paar Fotos – Beweise für diesen Tag, den wir mit Seekarte und Wetterbericht geplant hatten. Auf dem Kartentisch lagen die Entwürfe anderer Tage dieser Art. Wir teilten das neu entdeckte Wissen mit einem anderen Brüderpaar, das hier an der Küste unterwegs war. „Ich mach mich schon mal verrückt“, sagte einer von den beiden, als wir uns wegen der nächsten Session verabredeten, und gab die Strategie vor bis zum nächsten Sturm.

„He, wach auf, da kommt ein Set“, ruft D und ich sah es, aber zu spät. Ich tauche alle fünf Wellen ab und klammere mich an mein Board. Noch einmal aufsteigen. Meine Beine enden unterhalb der Knie in Taubheit. Ich paddle die nächste Welle an, steige auf und ducke mich an die Schulter in den Close-out, der mich in Dunkelheit einhüllt, weil kaum Licht durch das dunkelgrüne Wasser dringt, bis es über mir zusammenbricht und der Schaum mich auf der Inside ausspuckt. Ich blinzle in die Wintersonne, die vom Weiß reflektiert wird und humple auf fühllosen Gliedern an den Strand und sehe, wie D in eine steile Welle zieht.

Klick! Bild gespeichert. Mein Schädel brummt vor Lebendigkeit.

 

(Wird fortgesetzt)

Bild von aquaman

:-)

aquaman on Do, 10/07/2010 - 23:21
bin ganz aug auf deine fortsetzung