Ich stelle eine Thermoskanne auf die Ablage über dem Handschuhfach. Dampf kondensiert innen an der Scheibe. Es ist kühl, die Sonne geht gerade erst auf, aber es ist hell genug, um zu sehen, dass der Ozean aufgewühlt ist. Er wirkt kalt und hat dieselbe Farbe wie die grauen Wolken, die dicht an dicht gegen die Berge an der Küste getrieben werden. Der Winter hier, denke ich, ist so auch nicht viel besser als zu Hause, wo die Wellen genauso chaotisch brechen - allerdings bei 20 Grad weniger, aber dafür hofft man auch nicht ständig auf perfekte Bedingungen. Ich träume schon lange immer wieder von derselben Welle. Sie ist schulterhoch und bricht sauber über einem Kies-Sand-Untergrund in einer abgelegenen Bucht. Das Wasser ist klar und schimmert türkis. Ich übe Turns und genieße einfach nur den Ritt down the line. Nach ein paar Wochen steppe ich wie im Schlaf über die Planke, stehe vorn und halte die Zehen ins Wasser, laufe zurück und mache genauso weiter bis in alle Ewigkeit. In echt schmerzen meine Füße.
Gestern beim Einsteigen über das scharfe Riff bin ich abgerutscht und tief in ein Loch getreten, in dem Seeigel gerade Konferenz hatten. Auf jeden Fall habe ich mir so viele Stacheln eingezogen, dass ich den Rest des Tages an mir herumoperieren musste, um sie zu entfernen. Jetzt fühlt sich der ganze Fuß entzündet an. Ein Surfer aus St. Malo ist später an derselben Stelle rausgegangen. Abends in der Herberge habe ich ihn mit Sanitärreiniger beim Auswaschen der Wunden gesehen. Autsch! Ich ignoriere den Schmerz und versuche wieder den Take-off auf meiner Traumwelle. Aber die Realität ist stärker.
An der gesamten Westküste ist heute gar nichts zu wollen, chaotische Brandung bricht weit draußen vor der Küste. An den Spots im Norden verbläst der heftige Wind die eigentlich guten Intentionen der Wellen – im Osten schwabbelt das Meer ohne Elan an die sonst geschützten Stellen.
Ich habe heute Morgen zu lang gezögert, um noch die Fähre zur kleinen Nachbarinsel zu erwischen. Bei dem Wind, dachte ich, wird auch dort nichts gehen. Mit diesem Klumpfuß schon mal gar nicht. Später sehe ich aber dann die Linien der Sets an der gegenüberliegenden Küste vorbeiziehen. Bestimmt ist es dort immer noch besser, als wie die anderen den ganzen Tag im Wagen durch die Gegend zu fahren, um schließlich irgendwo eine miese Welle zu surfen – nur um nicht völlig trocken zu bleiben heute. Ich treffe unterwegs immer wieder dieselben Leute. Wer schon Spot X gecheckt hat, fährt weiter zu Spot Y, von wo die anderen gerade enttäuscht zurückkehren, um nochmal bei X nachzusehen, ob es da mittlerweile läuft. Und so weiter. Am Ende legen die einen sich wieder schlafen, während die anderen ihr erstes Bier trinken gehen. Das war vor Jahrzehnten schon so und ist heute bestimmt nicht anders. Hinlegen ist keine Option, da ich in meiner Bleibe nur hinter einem Vorhang schlafe. Den Platz teile ich mir mit einem Engländer, der wie ich auch für vier Wochen hier ist. Ein netter Kerl, aber er hat einen nervigen Surfkomplex. Ich versuche, immer morgens für ein, zwei Stunden ins Wasser zu gehen, bevor der Wind einsetzt, damit ich auf jeden Fall im Wasser gewesen bin. Und außerdem sind diese Stunden die friedlichsten des Tags, leere Line-ups, nur die Elemente. Jedes Mal wenn ich zurückkommen, fragt er, wie es war: „War beschissen, oder?“ Egal wie friedlich, gut oder schlecht die Session war, jedes Mal kommt die gleiche dämliche Frage, von der ich mir die Session aber nicht verderben lasse: „Geht so, bis gerade war eigentlich alles ziemlich gut.“ Keine Ahnung, wo er während der Wochen surfen gegangen ist. Aber er war nie zufrieden. Schicksal. Karma.
Ich gebe die Suche erstmal auf und fahre auf der Schotterpiste zurück in den Ort. Dann fällt mir ein, dass neulich jemand von einem Typen hier auf der Insel erzählte, der sein Boot vermietet. In einem Café an der Promenade stoße ich auf drei weitere deutsche Surfer, die für ein paar Wochen hier sind. Sie haben den Tag eigentlich schon drangegeben, sind aber auf jeden Fall dabei, als ich ihnen von dem Plan erzähle, uns zu dem kleinen Vulkan rüberbringen zu lassen. Einer von uns zieht los und sucht den Skipper, wir anderen warten mit dem Material und fertig umgezogen am Hafen. Nach einer Weile tauchen sie auf; wir gehen zu dem kleinen Boot des Deutschen, der das ganze Jahr über hier lebt.
Wir laden die Bretter ein, drei sitzen hinten im Boot, zwei hocken vorn auf dem Bug, und halten sich an der winzigen Reling fest, unter der sie gerade so eben ihre Bein durchstecken können. Unser Kapitän meint abschätzig, da sei sicher nichts zu machen drüben bei dem Wind, fährt uns aber trotzdem für 10 Euro pro Nase rüber.
Kaum aus dem Schatten der Hafenmole, geraten wir in eine gewaltige Dünung: Der Swell wird hier im flachen Wasser zwischen den Insel gestaucht, abgebremst und türmt sich noch höher auf. Weil wir nur Augen für die Brandung jenseits hatten, hat keiner auf die Bedingungen für die Überfahrt geachtet. Zu spät, unsere Nussschale zieht im Zickzackkurs über die Wellen, schräg die einlaufende Wand hoch, fliegt über den Peak, schlägt auf der Rückseite der Welle auf und hält schräg auf das Tal zu, um nicht zu krass zu beschleunigen. Am tiefsten Punkt ist außer der verschwindenden und der heranrollenden Welle nichts zu sehen, wir drei hinten im Heck johlen vor Aufregung, während die beiden Jungs vorn sich verzweifelt an den dünnen Draht klammern. Der Kapitän, ein sonnenverbrannter Abenteurer mit Dreads und gepierctem, eiterndem Bauchnabel, grinst scheel, weil er, wie wir alle, die Gewalt des Ozeans heute überschätzt hat oder vielleicht auch nur die Kapazität seines Bootes besser kennt als wir. Kurz vor dem Ziel flaut die Dünung zum Glück spürbar ab, und wir geraten in ruhiges Wasser. Als der Anker ausgeworfen ist, kommen die beiden von vorn zu uns ins Heck – mit Tränen in den Augen, vor Schmerzen oder Entsetzen. Auf jeden Fall bluten beide an den Händen, mit denen sie sich krampfhaft an die Reling geklammert haben.
Die Rechnung geht auf, es gibt eine Welle, weil der Wind im Luv-Stau vor der Insel einschläft und sogar leicht gegen die Welle weht. Der Winkel des Riffs passt nicht ganz zu dem gewaltigen Swell auf offener See, um ihn in anständige Brandung umzuwandeln. Aber was wir vorfinden, ist immer noch gut genug. Die Ersten springen in ihren Wetsuits über Bord, paddeln los; ich bleibe als Letzter mit dem Skipper an Bord und tape meine wunden Füße ab. Als wir gerade selbst ins Wasser springen wollen, merke ich, dass das Boot abtreibt. „Kann nicht“, sagt er, aber dann sieht er doch, dass wir driften, und gibt zu, dass der Anker wohl nicht gegriffen hat. Er wirft ihn noch einmal aus und er verfängt sich fest am Grund. Wir gehen von Bord. Während wir surfen, behalte ich das Boot immer im Auge. Ich habe wenig Lust, durch diesen krassen Swell zur Hauptinsel zurückzupaddeln.
Auf der Rückfahrt will keiner in den Bug, wir sitzen zu sechst hinten, das Boot ragt vorn steil aus dem Wasser. Keiner redet. „Cooler Trip“, sagt unser Kapitän zum Abschied. Der feste Boden wankt mir noch ein paar Minuten unter den Füßen.
Abends rufe ich zu Hause an. Das Gespräch ist plätschert dahin: „Wie sind die Wellen?“, fragt sie. „Ganz gut, aber der halbe Tag geht für die Suche drauf.“ – „Und sonst?“ – „Und bei dir?“ Nach einer Weile merke selbst ich, dass etwas nicht stimmt. „Was ist los?“, frage ich. Sie weint und sagt: „Es ist aus!“ Wir schweigen. „Sag doch was“, bittet sie am anderen Ende der Leitung, aber mit fällt gerade nichts ein, und der Moment, in dem ich auflege, ist der friedlichste des ganzen Tags. Vielleicht ist es einfach so, wenn man regelmäßig länger wegfährt und selbst vergisst, was man zurücklässt, hört die Welt zu Hause auf, auf einen zu warten. Das Gefühl ist auf eine bizarre Weise befreiend. Auf der Mauer neben der Telefonzelle liegt der abgenagte Kopf eines großen Fisches. Ein rüdes Abschiedsbild.
Ich treffe die anderen in der Bar und sehe, wie sie mit den Händen die Auf- und Abwärtsbewegung unseres Bootes auf den Wellen in die Luft zeichnen. Ihre Gesichter leuchten vor Aufregung und Alkohol. Ich gehe zu ihnen. Meine Traumwelle wartet ganz sicher auf mich. Sie hat ewig viel Geduld. Wenn ich Geduld habe.
(Wird fortgesetzt)
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starke Story wieder
tripmaster on Sa, 09/18/2010 - 23:02kommt auch ohne bilder rüber.
glaub die INsel kenn ich
nett ist auch die überfahrt, wenn am ende der hafenmole der motor anfängt zu stottern und man viel zu langsam in die dünung rein treibt....
Wenn das ganze jetzt noch mit
jens on Mo, 09/13/2010 - 22:05Wenn das ganze jetzt noch mit ein paar Bildern illustriert wäre, wärs der Oberknaller.