Aus dem Schatten am Horizont wird allmählich eine Mauer. Ich überlege, was tun. Oder besser, etwas in mir übernimmt die Kontrolle. Fast bin ich versucht, umzudrehen und zurück an Land zu paddeln. Aber das ist auch keine Option, ich sitze ziemlich weit draußen, und überhaupt. Was soll ich an Land? Bin ich Tennisspieler oder läuft irgend etwas im Fernsehen, das ich nicht verpassen darf? Los geht’s. Ich paddle dem Set entgegen, halte mich etwas nach Süden, um die Strömung auszugleichen, die mich am Peak vorbeiziehen will. Dann sehe ich, wie die erste Welle aus tiefem Wasser die Riffkante erreicht, sie stellt sich auf, der Kamm fängt auf zehn Meter Länge an, weiß auszufedern. Aber sie steht und ich beginne, die Lippe hochzupaddeln, komme rüber und erhasche kurz einen Blick auf die restlichen Wellen des Sets, die noch folgen. Was für ein Anblick. Plötzlich habe ich diesen seltsamen Geschmack im Rachen, metallisch. Das ist der Geschmack von drei Schäferhunden, die über eine Wiese auf einen zugerannt kommen, und der nächste Baum ist dreißig Meter entfernt. Aber die wollen nur spielen, sagt sich dies etwas in mir. Und du auch, Junge! Ich lasse die zweite Welle unter mir durchgehen. Ich sehe ihr nach – als sie bricht, zieht sie einen Schleier Gischt hinter sich her. Dann kommt meine Welle.

Gestern hatte mich der Wind schräg über dem Abgrund gehalten, als ich mich von der Kliffkante gegen den Sturm lehnte. Sandkörner strahlten mir mit jeder Böe hart ins Gesicht. Eine graue, fast schwarze Front rückte von Nordwesten heran. Die Wellen brachen schon weit draußen auf offener See – bis zum Horizont ein Schaumteppich. Der Wetterbericht am Abend zuvor hatte den Weg des Tiefs aufgezeigt, das von Schottland hierher ziehen würde. Isobaren, so dicht aneinander wie die Linien der Fingerabdruck in der Verbrecherkartei. Schaumfetzen flogen bis weit in die Heidelandschaft. Eine Dänin erzählte mir, das nach solchen Stürmen, die alle paar Jahre über die Küste hinwegziehen, die Nadeln der Bäume in den landeinwärts liegenden Wäldern verdorren. Die Luft ist dann so salzig, dass die Pflanzen auf der Wetterseite verätzen.

Der Peak baut sich vor mir auf, ich drehe das Brett um, lege mich hin und paddle, zwei, drei ruhige, lange Züge, dann spüre ich, wie ich von hinten angehoben werde. Ich mache schnelle Armzüge und komme ins Gleiten. Das Brett steht im 45-Grad-Winkel nach unten, an der Nose perlt das Wasser ab wie an Delfinen, die vor dem Bug eines Schiffes spielen, ich springe auf und sehe aus dem Augenwinkel, dass die Welle nach links auf fünf oder mehr Meter zu brechen beginnt. Das Face ist steil wie das Kliff am Lödbjerg, direkt rechts neben mir ist der Peak, ich stehe und ziehe nach rechts backdoor auf den Peak zu und die Zeit setzt aus ... Die Lippe steht über mir und neben mir, ich bin von Wasser eingeschlossen und sehe einmal kurz nach oben, wo sich das Sonnenlicht im transparenten Grün des Wassers bricht, dann nach vorn auf das Face der Welle vor mir. Sie biegt sich weit voraus um das Riff und ein ganzer Schwall von Erinnerungen überkommt mich: Ich sitze im Sommer unter der Markise im Garten der Eltern, Stunden, in denen nichts passiert, Libellen schlüpfen im Gartenteich und werden von Vögeln gefressen, mein erster Autounfall, als ich mit drei über die Straße gerannt bin und noch das Bild im Kopf habe, wie ich mit Tunnelblick auf der Straße liege und die Gesichter der Leute über mir sehe, die Ohnmacht mit 25, als ich mit dem Kiefer zuerst auf den Asphalt in Amsterdam geknallt bin, und Tausend Sachen mehr, an die ich mich gar nicht erinnere, sondern die ich in Magazinen gelesen habe, die andere mir erzählt haben oder die noch kommen – irgendwann. Und dann bin ich raus, frei auf dem Face, mit Pupillen so weit wie auf kalifornischen Halluzinogenen, und mache einen Bottom Turn, dann hoch zur Lippe, blicke zurück über meine Schulter und sehe die Curl hinter mir, den Foamball, dann schmiegt sich die Welle noch stärker an die Biegung des Riffs und ich lege mich in die Kurve wie auf der Rennstrecke in Le Mans. Nur dass mein Bolide ein 9’6’’er-Longboard ist, Single Fin und eigentlich längst in Rente, aber dieser Ritt gefällt ihm. Das ist wie in alten Zeiten, als es noch auf Fuerte einen 110 Kilo schweren Exilsylter getragen hat, der meist allein in den großen Wellen an der Nordküste unterwegs war. Dagegen ist dies ein Kinderspiel.

Ein Fuß zurück auf den Sweet Spot und das Brett dreht um 180 Grad, in die Knie und es wendet sich wieder zur Schulter. Jetzt Tempo auf hoher Linie. Auf der Inside wird die Welle gestaucht und ist nur noch einen Meter hoch, aber steil und so schnell, dass ich an den Sections vorbeirase. Ich krosse nach vorn, stehe kurz auf der Nase, die Fingerspitzen in der papierdünnen Lippe, die mir gegen die Flanke schlägt, balanciere zurück und steige über die Schulter aus. Die Welle läuft auf dem kiesigen Strand aus, mit einem Zischen oder Tuscheln, das wie ein Echo der Hunderttausend Stimmen klingt, die ich in der vielleicht einen Sekunde in der Tube gehört habe. Alle gleichzeitig, jede für sich.

Ich paddle langsam wieder raus und habe ausgerechnet diesen uralten Songtext im Kopf: „Love is like an energy, rushin' rushin' inside of me ... a force from above, cleaning my soul. Cleaning my soul.“ Die Wasseroberfläche ist glatt wie Öl, und jede neue Welle übertrifft die vorherige, rückt heran, baut sich auf, flockt am oberen Rand aus und bricht steil die Riffkante entlang. Ich bleibe so lange im Wasser, bis ich Sterne sehe, vor Kälte und Stoke. Dann taucht plötzlich neben mir ein Seehund auf. Wir betrachten uns einen Moment lang, dann taucht er wieder ab. Beim nächsten Ritt sehe ich ihn vor mir in der Schulter. Er reitet die Welle von innen ab, elegant wie ein Tümmler, ohne mich hinter sich zu bemerken, den schwerfälligen Gast in seinem Element. Es ist fünf am Nachmittag, die Sonne geht unter. Ich bin schwer auf Adrenalin. Aber clean!

 

(Wird fortgesetzt)

Bild von tripmaster

pure

tripmaster on Do, 09/02/2010 - 13:04

dope!