Eigentlich sollte der Blog „Männerurlaub im Familienparadies“ heißen. Nur am Rande bekam ich mit, dass mein Reisepartner relativ spontan ein lukratives Jobangebot in Fernost bekommen hatte, von nun an die Wochenenden wohl oder übel in Boardshorts auf indonesischen Riffen verbringen muss. Das machte mich für diesen Trip zum Alleinreisenden - mit all seinen Vor- und Nachteilen.
So ganz alleine war ich dann ja doch nicht...
Selten war ich auf einen Surftrip, der über zweieinhalb Wochen gehen sollte, derart unvorbereitet. Zwar war Ziel und Zeitraum schon lange vorher bekannt, Bretagne von Mittwoch vor Himmelfahrt bis Ende Mai, jedoch machte im Vorfeld ein stetig anwachsender Arbeitspegel, der seinen Höhepunkt direkt vor meinem Urlaub in einer Tagung in Brühl haben sollte, die gewohnt akribische Vorbereitung auf den Trip fast vollständig zunichte. Die Tatsache, dass mein sechs Jahre junges Reisemobil kurz vor dem Trip gleich zweimal in die Werkstatt durfte, machte die Situation nicht wirklich entspannter. So kam es, dass ich am Mittwoch von Brühl aus nicht wie geplant direkt in die Bretagne durchstarten konnte, sondern erstmal wieder zurück nach Münster fahren durfte, um mein Auto aus der Werkstatt zu holen. Einkaufen, tanken, Gas und Wasser auffüllen, Sachen einräumen, alles schön auf den allerletzten Drücker… ach ja, noch mal kurz die Vorhersage für die nächsten Tage gecheckt: Wetter durchwachsen, Luft unterkühlt, Wind lebhaft und nirgends richtig ablandig, Wellen immerhin vorhanden. Ein wenig gestresst stellte mich erstmal in den nächstbesten Stau. 1Live Verkehr: „Viel los im Sektor, daher Stau oder stockender Verkehr ab zehn (!?) Kilometer Länge…“, immerhin schien die Sonne und das Thermometer zeigte 20°C.
First Impression
Etwa 24 Stunden später erreichte ich die bretonische Atlantikküste bei 9°C, Regen und Sturm aus Nordwest. Endlich war ich wieder dort, wo ich mich am wohlsten fühle, am Meer. Körper und Geist entspannten sich innerhalb kürzester Zeit beim Anblick von Wasser, Wellen, einem freien Blick nach Westen in die Ferne auf einen schnurgeraden Horizont und der Gewissheit, zweieinhalb Wochen lang die Seele baumeln zu lassen und den Surfhunger zu stillen.
Einer von unzähligen Wanderwegen
Viel hatte sich in den fünf Jahren seit meinem letzten Ausflug auf die Crozon-Halbinsel nicht verändert. Rein geologisch betrachtet sind fünf Jahre ja auch nicht mehr als der Bruchteil eines Wimpernschlages. Entlang der schroffen Küstenlinie erwartete mich auch dieses Jahr wieder ein ausgewogener Mix aus interessanten, steil ins Meer abfallenden Felsformationen, Buchten mit viel Sand bei Ebbe, wenig bis gar keinem Sand bei Flut, und selbstverständlich viel blühende und grüne Wildnis drum herum. Mutter Natur hat sich an diesem Küstenabschnitt offenbar besonders viel Mühe gegeben.
Auch meteorologisch interessant
Auch die Menschen vor Ort sind seit vielen Generationen stets darauf bedacht, im Rahmen ihrer Möglichkeiten mit der Natur im Einklang zu leben und diese nicht zu stören oder gar zu zerstören, wie es andernorts leider der Fall ist. Vieles aus der Natur wird einfach so gelassen wie es ist, oder aber sinnvoll genutzt. So sind z.B. die urigen Behausungen in dieser Region größtenteils aus Naturstein errichtet, heben sich dadurch dezent und unaufdringlich von der wunderschönen Landschaft ab. Freundliche und aufgeschlossene Menschen, die auch (oder gerade) für den allein reisenden deutschen Touristen wie mich immer wieder ein nettes „Bonjour“ auf den Lippen haben, runden diese Wohlfühlatmosphäre ab.
Die Partymeile von Lostmarc'h
Touristisch hat die Crozon-Halbinsel ebenfalls einiges zu bieten. Leute, die Ruhe und Entspannung suchen, kommen ebenso auf ihre Kosten, wie Actionhelden und Adrenalinjunkies. Für fast jedes Bedürfnis gibt es irgendwo eine Nische zum Wohlfühlen. Crozon und die umliegenden Strände sind aber auch gerade bei jungen Familien sehr beliebt, wie mir immer wieder aufgefallen ist. Irgendwie hatte ich das Gefühl, der einzige Alleinreisende unter hunderten von Familien mit Kindern zwischen null und drei Jahren zu sein.
Wer parkt da eigentlich immer sein olles Wohnmobil vor meiner Linse???
Surfen kann man an einigen Küstenabschnitten natürlich auch - und das sogar in qualitativ ziemlich hochwertigen Wellen. Ein optimales Zusammenspiel zwischen Tide, Wind und Swellnachschub vom Atlantik hält an ausgewählten Spots jeweils kleine Zeitfenster für Qualitätswellen bereit, die den Surfern ein exaktes Timing abverlangen.
Was macht der Weihnachtsmann im Sommer?
Große Zeitfenster hingegen bestimmen die Zeitspanne zwischen den Sessions. Die Gewissheit, dass die nächsten paar Stunden garantiert nirgendwo in der Region etwas ordentliches läuft, kann für allein reisende Nordsurfer manchmal zu einer wahren Geduldsprobe werden. Junge Familien hingegen haben hier ausgiebig Gelegenheit zur Bespaßung und Erziehung ihres Nachwuchses. Die eigentliche Herausforderung für ein auf Teamwork und Kompromissbereitschaft basierendes familiäres Logistikunternehmen im Surfurlaub ist offenbar, das Zeitfenster für das vermeintlich Wesentliche nicht aus dem Fokus verlieren. Den Wellen und der Tide ist es nämlich total egal, wie früh oder spät es ist, ob es regnet oder nicht, ob das Kind gerade Besuch von der Zahnfee hat, unter Atomblähungen leidet, oder ob die letzte Windelpackung mal wieder vom Hund zerfleddert wurde und so zeitnah wie möglich ersetzt werden muss. Die Natur macht in dieser Hinsicht keinerlei Kompromisse und bestraft gnadenlos jeden unpünktlichen Surfer mit suboptimalen Bedingungen. Alleinreisende kennen solche Probleme nicht.
Müllentsorgung auf Bretonisch
Nach spätestens ein paar Tagen muss man sich, egal ob Alleinreisender oder Gruppe, Gedanken über die Müllentsorgung machen. Dass es in der Bretagne nicht ganz so einfach ist, seinen Müll legal zu entsorgen, war mir von den vorangegangenen Trips bereits bekannt. Neu für mich war allerdings die aktuelle Lösung des in den letzten Jahren offenbar stetig angewachsenen Müllproblems in dieser Region. So wurden an den altbekannten Entsorgungsstationen die öffentlichen Müllcontainer unlängst durch große, futuristisch anmutende Sammelbehälter ersetzt, die nur noch von der lokalen Bevölkerung mithilfe einer Chipkarte zu öffnen und zu befüllen sind. An Stränden und den Touristenmeilen sucht man nach wie vor vergebens nach Entsorgungsmöglichkeiten. Was macht also der gerne am Strand verweilende, gemeine Surfmobilist? - Genau, Müll horten, und zwar so lange, wie es die Geruchsnerven aushalten - erstunken ist noch keiner. Wer jedoch über ein empfindliches Riechorgan verfügt, und/oder mit der Zeit ein Platzproblem in seinem Surfmobil bekommt, muss als Ortsunkundiger schon ziemlich lange suchen, um seinen Müll legal los zu werden.
Die Welle lädt zum Nasenritt ein
Zurück zum Wesentlichen. Strandparkplatz von La Palue, Sonntagmorgen, 8:59 Uhr: Endlich einmal ausschlafen! Das dachten sich offenbar so einige Surfmobilisten beim Blick aus dem Schlafzimmerfenster. Es war grau, nebelig und ziemlich kalt - kein guter Tag für einen Frühsurf, also noch einmal umdrehen und weiterschlafen. Doch was war das? Da kam doch tatsächlich jemand, eingemümmelt in einen dicken Winterneo mit einem Longboard unterm Arm, den Weg vom Strand hochgestapft. Es war nicht einmal neun Uhr, und das Grinsen im seinem Gesicht hätte nicht breiter sein können.
Gut, dass Franzosen und junge Familien Langschläfer sind. Den Peak hatte ich vier Morgende am Stück für mich alleine
Kleiner Zeitsprung - Strandparkplatz von La Palue, Sonntagmorgen, 5:00 Uhr: Der Wecker beförderte mich aus einem ziemlich abgedrehten Traum gnadenlos zurück in die Wirklichkeit. Die sechs Flaschen Kronenbourg vom Vorabend zirkulierten immer noch munter in meinen Hirnwindungen, als ich mir einen Kaffee aufsetzte und aus dem Fenster schaute. Es war noch dunkel draußen, windstill und ziemlich nebelig. Das Zwitschern der Vögel kündigte die unmittelbar bevorstehende Dämmerung an. Und da war es wieder, dieses Rauschen. Eine Periode von um die zehn Sekunden sollte die Dünung nach wie vor haben. Die Wellenhöhe hatte in den letzten drei Tagen sukzessive abgenommen, sollte aber für meine Bedürfnisse noch völlig ausreichen. Von der Tide her sollte es vorerst der letzte Tag sein, an dem sich das frühe Aufstehen und das Surfen an einem menschenleeren Spot in der ersten morgendlichen Dämmerung lohnen würde. 5:49 Uhr, routiniert und leise (aber mal wieder nicht leise genug für den Hund im Nachbarbus) schlich ich mich an den zahlreichen Surfmobilen vorbei in Richtung Dünen. Es war bereits der vierte Tag in Folge, an dem ich dieses morgendliche Ritual vollzog. Es war verdammt nebelig, man konnte kaum 50 Meter weit schauen, aber mittlerweile kannte ich den schmalen Pfad, der sich nach etwa zehn Minuten Fußmarsch in ein weitläufiges Areal mit mehreren Optionen in Richtung Wasser auftat. Ich entschied mich wieder für die Variante am Nachbarstrand ganz hinten rechts in der Ecke und schlenderte entlang der Wasserkante mit Blick in Richtung der Wellen. Nach weiteren 500 Metern erkannte ich endlich schemenhaft, wie sich die Endsektion des A-Frames auch an diesem Morgen präzise und zu beiden Seiten offen über die zu der Zeit perfekt dafür geformte Sandbank schälend aus dem dichten Nebel auftat. Die Wasseroberfläche ähnelte jener Frischhaltefolie, wie sie damals in der Augsburger Puppenkiste rund um Lummerland zur Darstellung von Wasser eingesetzt wurde. Nach einem kurzen Aufwärmprogramm nahm ich zuerst den kniehohen Linkshänder ins Visier, surfte etwa zehn davon, bevor ich mich an den hüfthohen Rechtshänder herantastete. Nach ebenfalls etwa zehn Wellen tauchte aus dem sich langsam lichtenden Nebel ein weiterer Surfer auf, kurz darauf noch einer und noch einer - es wurde langsam Zeit für mich zu gehen. 8:59 Uhr, mit einem breiten Grinsen im Gesicht schlenderte ich zurück zu meinem Auto über den Strandparkplatz von La Palue, der so langsam zum Leben erwachte. Mit einer weiteren grandiosen Frühsession „auf Tasch“ legte ich mich zufrieden wieder ins Bett und schlief erstmal eine Runde aus. 10:59 Uhr, der Seewind hatte bereits eingesetzt und die Wellen von La Palue für den Rest des Tages in Ostseewellen verwandelt. Über 30 Surfer freuten sich dennoch, im Wasser sein zu dürfen - für mich begann die Zeit des Wartens.
Den Peak hat man selten für sich alleine
Der lokale Surfclub in Morgat erfreut sich stetig wachsender Mitgliederzahlen. Das WIR wird in solchen Etablissements groß geschrieben, so dass auch die Teamplayer der Individualsportart Wellenreiten voll und ganz auf ihre Kosten kommen. Synnergieeffekte werden genutzt, was Umwelt und Geldbeutel schont - jedoch nicht unbedingt die Nerven des zeit- und ortsgleich ruhesuchenden Individualisten. Denn so kommt man gerne mal mit mehreren vollbesetzten Kleinbussen samt Surftrailern an den Strand gefahren, um eine gemeinsame Session unter Freunden zu feiern. Ich hörte, dass demnächst für solche Aktionen Doppeldeckerbusse geplant sind, um noch mehr Leuten das Surfen als Joint Venture zu ermöglichen und natürlich auch, um die knappen Recourcen zu schonen. Ein Fahrzeug mit vielen Personen verpestet die Umwelt immerhin weniger als mehrere Fahrzeuge mit jeweils einer Person. Als Alleinreisender bekomme ich bei dem Gedanken manchmal schon ein schlechtes Gewissen, denn meine Energiebilanz diesbezüglich ist katastrophal.
Moritz beim Noseride into Closeout
Apropos Bilanz: der katastrophalen Umwelt- und Energiebilanz standen immerhin drei größere Swells, die jeweils mehrere Tage andauerten und 14 Surftage mit zum Teil 1A++ Wellen (Longboardpeeler) gegenüber. Die reichlich vorhandenen Warteperioden wurden ausgiebig genutzt, um zu entspannen, zu genießen, das durch Arbeit und Arbeitsort aus dem Gleichgewicht gebrachte Yingyang wieder zu harmonisieren, um Bilder zu knipsen, zu sortieren, am Blog zu schreiben, um Bücher zu lesen, ausgiebige Wandertouren in die Natur zu unternehmen und was man halt noch so alles als Alleinreisender im Familienparadies macht.
- Tim's blog
- Anmelden oder Registrieren um Kommentare zu schreiben
hach
tripmaster on Mo, 06/01/2015 - 23:03das macht doch wieder Lust mal wieder in die Ecke zu fahren......
übrigens, gräm dich nicht zu viel wegen der Energiebilanz. Familien sind da nicht zwangsweise effizienter. Und wenn du den CO2 zu gesurften Wellen Faktor nimmst, ist der auch nicht schlechter als der für dänische Wellen ;=)
schöner Blog
thomastabletop on Mo, 06/01/2015 - 22:14Als vor 6 Jahren
Tim on Di, 06/02/2015 - 05:29noch keine Höhenbegrenzung dort stand, bin ich mit meinem silbernen Wohnklo natürlich runtergefahren. Hatte mal kurz überlegt, eine 1m tiefe Unterführung zu graben. Wind war in der Tat leider ziemlich nervig, kam täglich pünktlich um 11 Uhr und hielt bis Sonnenuntergang.